07.05.2020
FOTO UND TEXT: Susanne Grädel

Abgesperrte Sitzbänke am Bahnhof Bern.

Solidarität während des Lockdowns?

Wo das Gemeinschaftsgefühl aufhört

Gerade während des aktuellen Lockdowns auf Grund des Coronavirus sprechen viele von der zunehmenden Solidarität in der Bevölkerung. Aber es gibt auch Menschen, die davon nicht viel zu spüren bekommen, die vergessen werden.  

Jetzt haben wir Zeit, uns endlich mal mit uns selbst zu befassen. Der Lockdown schenkt uns Zeit. Ja, das stimmt. Und das tut vielen gut. Auch mir selbst. Und auch die Nachbarsolidarität nimmt spürbar zu: Frau B. geht für den 80-jährigen Herrn M. einkaufen, Tanja meldet sich als Nanny für die drei Kinder von Familie H. In diesen schweren Zeiten muss niemand alleine sein. Aber stimmt das? 

Das Osterwochenende 2020 fühlte sich länger an als jedes bisherige Osterwochenende. Dies ist der Pandemie zuzuschreiben, denn sie vermiest uns das Osterfest mit der Familie. Sie zwingt uns, zu Hause zu bleiben. Auf Facebook häufen sich Bilder von verlassenen Wiesen, von Bäumen behangen mit Kirschblüten und bunten Blumenfeldern, auch diese menschenleer. Oder von Ostereiern, von den Kindern bemalt, von Pärchen, die auf dem Sofa faulenzen und das Nichtstun geniessen. Und ich? Ich gammle auch auf dem Sofa herum, aber mit meiner Katze. Denn ich lebe alleine. Und ich frage mich, ob ich die Einzige bin, die dieses Alleinsein so langsam satthat. Ich beschäftige mich schon seit langer Zeit mit mir selbst, und dies auch sehr gern. Konzerte, Ausstellungen und Lesungen werden online veranstaltet, und auch ich nutze diese Möglichkeit, trotz dieser ausserordentlichen Situation ein wenig Kultur zu geniessen. Und doch sitzen gerade in dieser Zeit die Menschen, wie viele das auch sein mögen, dabei alleine auf ihren Sofas oder in ihren Küchen. Dieses Gemeinschaftsgefühl, das ich an einem Konzert erlebe, stellt sich bei mir nicht ein. 

Die Menschen ziehen sich zurück 
In den sozialen Medien sehe ich Videos aus Italien – winzige Balkons, auf denen gesungen und getanzt wird, Nachbarn, die sich etwas einfallen lassen, um trotzdem zusammen Apéro trinken zu können. Eine Vorrichtung aus Ästen, an deren Ende sich ein Glas befestigen lässt, fand ich besonders kreativ. Auch in Deutschland werden auf den Balkons und Terrassen Partys veranstaltet. Und in der Schweiz? Ich sehe hier niemanden tanzen. Mir scheint, die Menschen ziehen sich immer mehr zurück. Wer Familie, Partnerin oder Partner hat, umso mehr. Eine Freundin erzählt mir: «Mir kommt es so vor, als schaue jeder nur für sich. Jeder sollte jetzt auch sozial solidarisch sein! Zusammen per Skype zu Abend essen zum Beispiel. Für die da sein, die jetzt alleine sind.» Und eben nicht nur mit Risikogruppen, Familien und alten Menschen solidarisch sein. Klar, die Menschen sind sich nicht gewohnt, mit einer Person, die nicht in den engsten Kreis der Familie gehört, per Videochat zu essen. Das sind soziale Strukturen, die sich nicht einfach auflösen lassen, das ist mir und meiner Freundin bewusst. Aber vielleicht wäre gerade jetzt ein guter Zeitpunkt, deine alleinstehende Freundin, mit der du sonst auch regelmässig ein Bier trinken gehst, per Skype auf ein Bier zu treffen. 

Zu Hause solidarisch sein?
Die Frage nach der Solidarität stellt sich mir aber nicht nur in Bezug auf mich selbst. Wenn Freunde und Freundinnen mir sagen, sie würden diese Entschleunigung gerade geniessen, dann hinterlässt dies bei mir einen bitteren Nachgeschmack. Denn was in der Homeoffice-Bubble schnell verblasst, sind die Probleme jener, die jetzt nicht zu Hause bleiben können – ganz einfach, weil sie kein Zuhause haben. Auch in unseren Städten ist die fehlende Solidarität sichtbar: Die kirchliche Gassenarbeit Bern kritisiert das fehlende Angebot für obdachlose Frauen und Männer. Deren Wohnzimmer sei die Gasse. Wenn ich am Bahnhof Bern entlanglaufe, sehe ich versperrte Sitzbänke. Manche wurden gleich ganz entfernt. Wenn für Menschen der soziale Mittelpunkt die Gasse ist, wenn für sie der Videochat keine gangbare Option ist, um sich mit Menschen auszutauschen, dann ist die Solidarität mehr denn je gefragt. Diese Menschen, die jetzt trotz Ermahnungen und Bussen der Polizei in Gruppen am Bahnhof zusammenstehen, gehören nicht immer einer gesundheitlichen Risikogruppe an. Aber gerade sie fühlen sich alleine. Und auch sie haben unsere Solidarität verdient. 

Wenn die Stille laut wird
Ja, diese Realität ist bedrückend. Und sie findet vor unseren Türen statt. Die momentane Ungewissheit und das ständige Alleinsein können auf die Psyche schlagen. Was, wenn die Motivation fehlt, um die Zeit zu nutzen und etwas Neues zu lernen? Was, wenn das Aufstehen morgens schwerfällt? Wenn der Job und die Familie fehlen? Wenn wir uns nicht gebraucht fühlen? Alaa Hijazi ist Traumapsychologin aus Beirut und kritisiert via Facebook-Post «motivierende» Aussagen wie: «Wenn du nach diesem Lockdown nicht etwas Neues gelernt hast, hat es dir nie an Zeit, sondern an Disziplin gefehlt.» Hijazi sagt, dass wir alle nun ein Trauma erleben, und manche von uns haben mit Existenzängsten, aber auch mit psychischen Krankheiten zu kämpfen. «Diese kulturelle Besessenheit von kapitalistischer Produktivität und die Zeit immer auf ‹produktive› oder ‹fruchtbare› Weise verbringen zu müssen, ist absolut verrückt.» Auf der Website dureschnufe.ch, einer Plattform für geistige Gesundheit rund um das neue Coronavirus, steht: Um uns vor Isolation und Ängsten zu schützen, sollen wir die sozialen Kontakte pflegen, eine Tagesstruktur einhalten, die Zeit für sinnvolle Dinge nutzen, die wir schon immer mal machen wollten, oder unsere Räumlichkeiten dazu nutzen, auch mal für uns alleine zu sein. Das ist ja nett gemeint. Aber nicht jeder kann dies umsetzen. Und für viele ist das Alleinsein genau das Problem. Wenn die Depression mal da ist, kommen solche Tipps zu spät. Der Schweizerische Verein «Die Dargebotene Hand» arbeitet momentan rund um die Uhr. Die Anrufe von Hilfesuchenden haben im März 2020 um 7,5 Prozent zugenommen, wie es in einer Medienmitteilung heisst. In rund 3500 Gesprächen waren die Themen Einsamkeit und Sorge um die Alltagsbewältigung auf Grund der Pandemie zentral. Die Kapazitäten wurden im April deutlich erhöht. 

Wie sieht das Leben danach aus?
Gerade jetzt, wo die Menschen vermehrt Rat suchen, sind Plattformen wie dureschnufe.ch und Notfall-Hotlines wichtig. Aber vielleicht müssen diese Ängste, Sorgen und Einsamkeitsgefühle gar nicht in einen psychiatrischen Kontext gedrängt werden. Ich bin überzeugt davon, wenn das Gemeinschaftsgefühl über soziale Strukturen hinausgetragen werden würde, dann wäre vielen Menschen, die sich zurzeit alleine fühlen, sehr geholfen. Einsamkeitsgefühle, Ängste und auch psychische Krankheiten wie Depressionen werden nicht verschwinden, nur weil das Leben eines Tages wieder draussen stattfindet. Seien wir also solidarisch und bekämpfen wir die Einsamkeit – wenn auch beim Zuprosten per Videochat.  

Susanne Grädel

Radiojournalistin, Fotografin, Journalistin «der arbeitsmarkt»